4. Ein Zuhause

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Der Plan war simpel gehalten. So könnte weniger schiefgehen, sollte man meinen. Mit einem Zug der Handelsnation Hardon würde es in die neutrale Zone gehen. Eine Pufferregion zwischen Sarkorska und dem Imperium Raktaran. In der ersten größeren Stadt in der Zone wartete dann ein Expresszug mit Kurs auf die sarkorskische Hauptstadt Sintia auf uns.

Unserem Entführungsopfer hatte ich nach ihrem Auftritt noch Leon und Freddy vorgestellt. Leon war vom Körperbau ein massiver Schrank, zog es jedoch vor, im Hintergrund zu bleiben. Sein Kleidungsstil ähnelte dem Meinen, ein weißes Hemd mit roten Karos und eine schwarze Weste mit zahlreichen versteckten Taschen. Freddy, ein eher schlaksiger Typ, konnte nicht sprechen, dafür hatte er eine herausragende Wahrnehmung seiner Umgebung. Ihm entging quasi nichts. Er zog im Gegensatz zu uns Kapuzenpullover vor. Bei beiden waren die einst schwarzen Haare von weißen und grauen Haaren deutlich durchsetzt.

Vor dem Hotel wartete eine Dampfkarosse auf uns. Den Wagen hatte ich uns über die Rezeption bestellen lassen. In dieser Universitätsstadt war es das unauffälligste Verkehrsmittel. Es war ein eher älteres, kantiges Modell. Der Passagierraum bot genug Platz für sechs Personen, wenn sie eng aneinander rückten. Am Heck des Wagens waren zwei dicke, bereits leicht rostende Rohre, aus denen überschüssiger Dampf abgelassen werden konnte. Bei genauerer Betrachtung hatte dieser Dampfkraftwagen nur Kanten. Wäre es dem Ingenieur gelungen, das Lenkrad auch als Rechteck zu verkaufen, wäre es vollendet gewesen. Passend zum Imperium. Fand ich. Nur wehe dem, der aneckt.

Es war ein geschäftiger Morgen. Das lag wohl zum Teil an dem Wochenmarkt, der heute anstand, aber sicherlich auch an dem Zug der Handelsnation Hardon, der demnächst in den Bahnhof einfahren würde. Auch wenn es Dampflokomotiven bald ein gutes Jahrzehnt gab und sie ihre Effizienz hinreichend unter Beweis gestellt hatten, waren sie im Imperium Raktaran unterrepräsentiert. Umso mehr zogen die eindrucksvollen Windstecher, wie sie in Hardon getauft wurden, Schaulustige an.

Robert Hitzinger umklammerte neben Leon sitzend seine Aktentasche. Sie war aus stark abgetragenen, dunkelbraunen Leder. Er verwendete sie sicher schon, seit er der Akademie beigetreten war. Die gebotene Eile hatte ihm nur das Hab und Gut gelassen, welches in diese Aktentasche passte.

"Was ist mit den Daten ..." Robert zögerte. "In der Akademie ..."

"Fruchtloses Unterfangen", wendete ich ein. Robert wollte auf die in der Akademie hinterlegten Forschungsergebnisse hinaus. Hiervon befanden sich Kopien der wichtigsten Erkenntnisse in der Aktentasche in seinen Armen.

"Ihre Ergebnisse sind über alle Akademien im Imperium verteilt. Eine Vorkehrung, die in jüngster Vergangenheit eingeführt wurde. Möglicherweise, weil Forschungsergebnisse abhandengekommen sind."

"Es werden Kopien erstellt? Davon wusste ich gar nichts."

"So sieht es wohl aus. Eines der vielen Geheimnisse. Wenn auch ein sehr kleines."

In unter einer Viertelstunde kamen wir mit unangenehm quietschenden Bremsen und in weißem Dampf gehüllt vor dem Bahnhofsgebäude zum Stehen. Freddy gab mir ein Handzeichen, dass er keine Verfolger wahrgenommen hatte. Das war schon einmal ein guter Anfang, allerdings fürchtete ich, dass die unangenehmsten Verfolger den Zug als Fluchtmittel bereits erwartet hatten. Am liebsten hätte ich als Ablenkung den Tod von Robert vor unserer Abreise vorgetäuscht, stattdessen würde in etwas unter einer halben Stunde ein Feuer in seiner Wohnung ausbrechen. Dabei würde es so heiß brennen, dass keine menschlichen Überreste verbleiben könnten. Ich hatte die letzten Tage sichergestellt, dass die anderen Bewohner des Hauses gerade dann nicht Zuhause sein würden. Auch wenn ich nicht dasselbe für ihre Besitztümer behaupten kann.

Robert Hitzinger behielt ich diese Information vor. Ich wusste, dass er sich dagegen ausgesprochen hätte. Doch auch wenn ich selbst einen eleganteren Weg vorgezogen hätte, so geht es darum, Zweifel am Verbleib von ihm zu säen. Da kam ein Feuer, ausgelöst durch die besonders heißen roten Seelenflammen, die Robert ebenfalls erforschte, bei so kurzer Vorbereitung gerade recht. Es würde so aussehen, als hätte er sein Forschungsmaterial mit nach Hause gebracht und durch unsachgemäße Lagerung ist es zu einem Ausbruch der Flammen gekommen.

Das Bahnhofsgebäude hatte etwas Monumentales. Sechs massive Säulen, deren Umfang ungefähr Leon entsprach, dominierten die Front. Sie reichten über zwei Stockwerke und trugen Teile des dritten Stockwerks. Freddy löste sich von uns und tauchte in dem Menschenstrom unter, der vom Bahnhofsvorplatz gerade hereinströmte.

Während ich den Fahrer bezahlte, hob Leon einen mit Metallriemen beschlagenen Koffer vom Dach des Wagens. In meiner linken Hand trug ich meinen Aktenkoffer. Er war tiefschwarz und genaugenommen kein simpler Aktenkoffer. Der Schließmechanismus ließ sich nur durch mich öffnen und von Außen war keine Form von Schloss zu erkennen. Aus meiner Weste zog ich eine Taschenuhr. In fünf Minuten würde der Zug eintreffen. Ich signalisierte dem Fahrer, dass wir unser Gepäck abgeladen hatten. Mit einem Schwall aus Dampf, der aus jeder Pore des Rohrsystems des Wagens zu dringen schien, setzte sich die Dampfkarosse in Bewegung. Dass wir während der Fahrt nicht dampfgegarrt wurden ...

"Sind Sie schon einmal Zug gefahren?", fragte ich Robert.

"Na", winkte er ab. "Aber so viel anders zu Dampfkarossen wird es schon nicht sein."

"Das würd ich nicht sagen. Es wird viel geschmeidiger. Aber wir sollten uns sputen. Uns bleiben nur wenige Minuten."

Wir traten ins Bahnhofsgebäude. Es war eine große Halle. Zentral in der Mitte ragte ein Dampfgenerator bis hoch in den dritten Stock. Für dieses Gebäude war er massiv überdimensioniert, aber er versorgte wahrscheinlich auch die umliegenden Gebäude mit Dampf. Man kann es sich als einen aus Metall gefertigten Zylinder vorstellen, der von zahlreichen Rohren umflochten war. Einige der Rohre verschwanden im Boden, weit mehr verteilten sich an der Decke scheinbar zufällig in alle Himmelsrichtungen. Durch gezielt in den Zylinder eingesetzte Scheiben drang durch das Geflecht an Rohren ein tiefrotes Schimmern nach außen. Dies gab dem Gebilde ein böses Aussehen, als könnte es sich gleich verselbstständigen. Nicht, dass mir das schon passiert wäre ...

Rechts und links von uns führten Treppen in den zweiten Stock. Im zweiten Stock war sowohl die imperiale Post als auch ein Restaurant zu finden. Besonders zum Restaurant zog es gerade viele der Besucher des Bahnhofs. Ein vom Restaurant aus erreichbarer Balkon bot einen ausgezeichneten Blick auf den in Kürze eintreffenden Zug.

Unser Weg führte uns direkt am Generator vorbei. Die Tür zum Bahnsteig stand bereits offen und Menschen sammelten sich in Trauben. Auf den ersten Blick vernahm ich keine militärischen Uniformen. Wenn wir verfolgt wurden, dann in Zivil.

"Wir müssen vorne einsteigen. Ich habe für uns ein Abteil reserviert", erklärte ich und brachte uns zum linken Drittel des Bahnsteigs.

"Zurück, meine sehr geehrten Damen und Herren! Bitte weichen Sie hinter die Markierung zurück!", riefen mehrere Bahnangestellte im Chor. Gut einen Meter musste Abstand von der Bahnsteigkante gehalten werden.

"Warum müssen wir so weit zurück?", fragte Robert. "Wird der Dampf an der Seite abgelassen?"

"Nur beim Anfahren oder Überdruck, aber das ist nicht der Grund", entgegnete ich und zeigte schlicht in die Richtung, aus der der Zug kam.

Ein ikonisches Pfeifen kündigte ihn an. Der hardonische Windstecher war ein Wunder der Ingenieurskunst. Der Triebwagen wirkte wie aus einem Stück gegossen und war darauf ausgerichtet, wenig Angriffsfläche für Luftströmungen zuzulassen. Zugleich war er mächtig genug, um sich mit seinem Schild auch durch verschneite Regionen kämpfen zu können. Mit etwas über achtzehn Metern Länge war er um drei Meter länger als die sich anschließenden Waggons. Selbst ohne sein ikonisches Pfeifen zog die strahlend gelbe Lackierung alle Aufmerksamkeit auf sich. Es folgten drei Frachtwaggons. Der Zug erreichte Schrittgeschwindigkeit.

Der nun folgende Waggon war der Besatzung des Zuges vorbehalten. Mehrere Schaffner in dunkelgelber Uniform mit gleichfalls strahlend gelben Akzenten schwangen sich aus der Tür des noch rollenden Zuges. Jeder der anwesenden Passagiere vernahm den anschwellenden Druck von sich ausbreitenden Seelenflammen. Sowie die Schaffner den Bahnsteig berührten, verschwanden sie mit einem Krächzen aus dem Sichtfeld.

An jedem Eingang der Passagierwaggons erschien einer der Schaffner, umhüllt von gelben Seelenflammen. Die Überreste, der noch nicht verflüchtigten Seelenflammen knisterten in der Luft.

"Meine sehr geehrten Damen und Herren, der Windstecher-Express heißt Sie willkommen", sagte der Oberschaffner, der als letzter ausgestiegen war und noch am Schaffnerwaggon stand. Mit seinen Fingern berührte der dabei das Abzeichen der Schaffner auf seiner linken Brust, ein versteckter Flammenkommunikator, der mit den Lautsprechern an den Waggons interagierte. "Abfahrt ist in fünf Minuten, bitte steigen Sie ein und nehmen Sie Platz."

Sein Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich konnte es in diesem Moment nicht zuordnen.

"Sind das nicht etwas viele Schaffner?", meinte Robert.

"Die Kontrolle von Fahrscheinen ist nicht ihre Hauptaufgabe", erklärte ich. "Das sind Kampfschaffner."

"Kampf ... schaffner ...?", fragte Robert verdutzt.

"Veteranen und kampferprobtes Personal, welches den Zug, seine Fracht und seine Passagiere vor äußeren wie inneren Gefahren schützen sollen. Auch wenn der Zug durch hauptsächlich erschlossenes Land fährt, sind weite Teile der nördlichen Strecke den Einflüssen der Wildnis und ihrer Raubtiere ausgesetzt."

"Also sind es eigentlich Soldaten, die Fahrkarten kontrollieren."

"Ja, aber das verkauft sich nicht so gut."

Nach dem Schaffnerwaggon folgten zwei Waggons mit Abteilen. Daran schloss sich ein Speisewaggon an. Dann folgten drei einfache Passagierwaggons und schließlich ein Schlafwaggon. Die Waggons waren im schlichteren, dunkleren Gelbton lackiert, der auch die Uniformen der Schaffner dominierte. Im ersten Abteilwaggon befand sich unser Abteil. Recht mittig gelegen.

"Herr Thal?", fragte Robert, als wir unser Abteil erreicht hatten.

"Wir können auch gern zum Du übergehen", bot ich an und half Leon mit dem schweren beschlagenen Koffer. Wir platzierten ihn in der Ablage über unseren Köpfen.

"Von mir aus. Wie lange werden wir unterwegs sein?"

"Bis zur neutralen Zone sind es so anderthalb Tage", schätzte ich und wackelte dabei mit meiner Hand.

"Bei der Strecke?", wunderte sich Robert.

"Die Windstecher hält nur, wenn sie muss", meinte ich mit einem Lächeln. Seinem neugierigen Blick entnahm ich, dass ihm diese Antwort nicht reichte. Ich setzte mich neben Leon in Fahrtrichtung und öffnete den unteren Knopf meiner Weste. Der schwarze Aktenkoffer ruhte zwischen meinen Beinen auf dem Boden. Robert saß wie Leon am Fenster. "Der Dampfgenerationsprozess der Windstecher ist ein weitgehend geschlossenes System. Dadurch fallen viele Zwischenhalte weg, die sonst zum Nachfüllen von Wasser notwendig wären. Auch sind die von Hardon abgebauten Seelenkristalle von besonders hoher Energiedichte, wie du sicherlich weißt. So wird aus einer viertägigen Karossenfahrt anderthalb Tage Zugreise."

Er umklammerte noch immer seine Aktentasche. Ich deutete auf seine Haltung. "Ich würde dir gerne sagen, dass du dir keine Sorgen machen musst. Aber das würde auch nichts an der Situation ändern."

Robert atmete tief durch und senkte den Kopf. "Nein, das würde es nicht. Auch wenn ich mit so einem Tag gerechnet habe, möchte ich am liebsten vor den Konsequenzen weglaufen. Forscher sind nur solange nützlich, wie sie Ergebnisse bringen."

Ich hielt mich zurück, darauf etwas zu erwidern.

"Dass du meine Grundlagenforschung derart schätzt." Er zeigte durch den Raum, auf die Gesamtsituation um ihn herum deutend. "Ist mehr, wie ich mir je erwartet habe. Und doch. Doch, frage ich mich, was jetzt noch kommen soll. Meine Arbeit ist ja getan."

"Hmm ..." Ich kratzte mich am Kinn. "Die gute Frage nach dem Sinn des Lebens. Eine ewig harte Nuss." Nach einer kleinen Denkpause setze ich an. "Warum sitzt du hier? Was glaubst du, sind meine Beweggründe?"

"Das offensichtliche wären meine Forschungsergebnisse, aber die hättest du auch einfach stehlen können, wie du es ja auch getan hast." Er tippte auf seine Aktentasche. Nach einem Moment hob er den Kopf und musterte mich deutlich. Es war ein forschendes Funkeln in seinen Augen. "Ausgehend von gestern Abend kann es auch persönliches Interesse sein."

"Das habe ich vor langer Zeit an den Nagel gehängt", entgegnete ich mit einem Lächeln. "Auch wenn meine Neugier nur zum Teil gespielt war, habe ich mich etwas anderem verpflichtet."

Er zog eine Augenbraue hoch, ob meiner kryptischen Ausdrucksweise. Entschied sich aber, es darauf beruhen zu lassen. "Und warum sitze ich hier?"

"Deine Grundlagenforschung ist in meinen Augen noch nicht abgeschlossen. Das ist auch der offizielle Grund für das Eingreifen des Korrektorats", stellte ich klar. "Aber wie du bin ich fest davon überzeugt, dass dir eher früher als später ein Ende gesetzt worden wäre." Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und seufzte. "Ehrlich gesagt, ist mein Handlungsspielraum begrenzt. Auf der einen Seite kann ich nur wenige Menschen auf diesem direkten Weg retten. Zum anderen wäre es fatal, mich blind in Rache zu stürzen. Darum greife ich nach den Möglichkeiten, die sich vor mir auftun." Ich schaute ihm geradewegs in die Augen. "So wie du. Ich werde dir nicht das wiedergeben können, was dir genommen wurde. Aber in Sarkorska kann ich dir wenigstens ein Zuhause bieten."

Robert wischte sich einige Tränen aus dem Gesicht. "Ich nehme dich beim Wort."

< ... >
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< Fragen der Innenrevision >

Innenrevision: "Ich nehme an, Sie wissen etwas über Robert Hitzinger, das nicht in seiner Akte des Korrektorats steht."

Richard Thal: "Muss ich das preisgeben?"

Innenrevision: "Als Korrektor sollten Sie wissen, dass die Hintergründe herausgehobener Schutzpersonen und wie in diesem Fall sogar die des Missionsziels essenziell für die Aktenhaltung sind."

Richard Thal: "... Sein Vater war Forscher an der imperialen Akademie. Nachdem er über drei Jahre keine nennenswerten Forschungsergebnisse erbringen konnte, wurde er von der Akademie ausgeschlossen. Er begann zu trinken, tötete Robert Hitzinger's Mutter im Affekt und beging Selbstmord. Robert war zu dem Zeitpunkt fünfzehn Jahre alt."

Innenrevision: "Das hätten Sie auch von Vorhinein angeben können."

Richard Thal: "Mit Verlaub, diese Information sollte keine Rolle für das Archiv des Korrektorats spielen."

Innenrevision: "Zur Kenntnis genommen. Eine Anschlussfrage. Woher haben Sie diese Informationen über Robert Hitzinger."

Richard Thal: "Berufsgeheimnis."

Innenrevision: "Herr Thal. Bitte kooperieren Sie."

Richard Thal: "Nein. Ich erinnere Sie an das Recht, welches mir der Hohe Rat eingeräumt hat."

Innenrevision: "... Bitte fahren Sie mit Ihren Ausführungen fort."

Für daran anschließende Operation Palingenese siehe: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/6707376984-midnightplay-operation3A-palingenese
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