7. August 1957

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„Ich werde nie wieder mit einem Schiff fahren“, ächzte Johann, der sich mit beiden Händen an der Reling festhielt. Leonid, der neben ihm stand und auf die untergehende Sonne hinausschaute, schüttelte den Kopf: „Seekrankheit ist vor allem eine Frage der geistigen Einstellung. Das Meer ist nicht gefährlicher als eine Straße oder ein Berg. Oft hilft es, sich an einem feststehenden Punkt zu orientieren.“ 

Johann nickte zweifelnd: „Naja, dass einem Marinesoldaten das Meer zur Heimat wird, ist mir schon klar, aber ich fühle mich eher wie die Jünger, die während des Seesturms verzweifelt versuchen, Jesus zu wecken und um Hilfe zu bitten. Da war ja der Flug über den Atlantik geradezu ruhig!“ 

Leonid horchte auf: „Ich bin mit euren Mythologien nicht sonderlich vertraut. Hat er ihnen geholfen?“

Johann war immer wieder aufs Neue überrascht, dass es Menschen gab, die nicht von Kindesbeinen an mit biblischen Geschichten vertraut gemacht worden waren. Für ihn waren diese Geschichten die größte Selbstverständlichkeit, ja, er nahm selbst seine Gegenwart durch die Brille dieser Erzählungen war, aber wie erklärte man das jemandem, der all das zum ersten Mal hörte; als Erwachsener und Kritiker?

„Er ist aufgestanden, hat ihre Ängstlichkeit gerügt und dann den Seesturm gestillt.“ 

Leonid überlegte kurz: „Wenn es aber wirklich ein Seesturm war, und nicht so wie hier eine leichte Brise, warum rügt er dann die anderen, wenn sie sich fürchten? Ein ausgewachsener Seesturm ist etwas Fürchterliches. Und wenn man dann nicht richtig handelt, ist der Untergang des Schiffes und der Mannschaft sehr wahrscheinlich.“ 

Johann antwortete: „Ich kann mir zwei Lösungen vorstellen, eine theologische und eine anthropologische. Auf einer menschlichen Ebene bedeutet dieses Wort des Herrn, dass Furcht immer unseren Blick verengt und beschränkt: Vor Angst sehen wir keine Lösungsmöglichkeiten und reagieren panisch.“ 

Leonid nickte: „Das leuchtet mir ein, in diesem Fall geht es um die Unterscheidung von Vorsicht und Furcht. Nun bin ich aber gespannt auf den theologischen Teil.“ 

„Wenn Jesus Christus ganz Mensch ist, versteht er die Sorge der Jünger um ihr eigenes Leben, wenn er ganz Gott ist, kann er dem Seesturm gebieten und so das Leben seiner Jünger retten. Die Geschichte verdeutlicht also die zwei Naturen, die in Jesus Christus vollständig enthalten sind; die ihn ausmachen.“ 

Leonid drehte sich zu Johann um: „Ein Anführer, der sich für seine Mannschaft einsetzt, ist auch für mich ein großes Vorbild. Aber warum muss man diesem Anführer immer noch eine übermenschliche Qualität anhängen. Genügt es nicht, dass er seine ‚Jünger‘ belehrt und ihnen den geeigneten Ausweg zeigt?“ 

„Kein Anführer könnte einen Seesturm stillen.“, erwiderte Johann. 

„Aber er könnte seinen Männern den Plan für ein besseres Boot geben, das den Naturgewalten trotzt. Wenn wir schon nicht das Klima ändern können, dann können wir unsere Ausrüstung dem Klima anpassen. Menschen haben Wüsten und Pole durchwandert, Flüsse umgeleitet und Flugzeuge gebaut: Wenn wir die Technik weiter entwickeln, werden wir noch viel mehr tun können. Euer Anführer hingegen scheint schon lange nichts mehr getan zu haben, wenn ich mir nur die vielen Schiffskatastrophen anschaue, bei denen Christen untergehen.“ 

Die Naivität der Frage wie ihre Ehrlichkeit reizte Johanns Ehrgeiz: „Wenn wir Menschen Schiffe bauen, Flugzeuge oder an Orte reisen, die sehr gefährlich sind, weil wir uns ganz auf unsere Ausrüstung verlassen, warum erwarten wir dann zusätzlich noch göttliche Hilfe? Für mich spricht die Tatsache der zahlreichen Schiffsunglücke und sonstigen menschengemachten Katastrophen eher dafür, dass wir niemals in der Lage sein werden, wie Gott zu sein und die Natur zu zähmen. Jedes Mal, wenn wir eine innovative Technik entwickelt haben, zeigten sich bald nach ihrer Einführung verheerende Nebenwirkungen. Wir nehmen sie in Kauf, um das Hauptziel zu erreichen; wir gehen das Risiko sehenden Auges ein.“

Leonid wollte schon zu einer Antwort ansetzen, als Thomas und Aleksandra herankamen. Johann seufzte. Jedes Mal, wenn er mit einem seiner Begleiter eine theologische Diskussion anfing und endlich wieder ganz in seinem Element war, kam irgendjemand oder irgendetwas dazwischen. Ein Aufnehmen der Diskussion zu einem späteren Zeitpunkt war ihm noch nie gelungen. 

Aleksandra blickte sich um, aber weit und breit waren keine anderen Passagiere zu sehen. So konnte sie in ihrer Muttersprache reden und Leonid übersetzte: „Ich habe bisher noch nicht allzu viel herausgefunden. Aber soweit wir die Zeitungen richtig verstanden haben, befinden sich Kapitän und Mannschaft von Wladimirs U-Boot in Cartagena in der dortigen Marinekaserne. Der Kapitän und einige Mitglieder der Mannschaft haben angeboten, den Standort des U-Bootes zu verraten, sobald ihnen Asyl in Kolumbien gewährt würde.“ 

Johann verstand nicht recht und fragte nach: „Das heißt, das U-Boot steht völlig alleine an irgendeinem Strand?“ 

Leonid schüttelte den Kopf: „Man sieht, dass du wenig Ahnung von U-Booten hast. Würde das U-Boot sich einem Strand nähern, würde es bald auflaufen und im Untergrund festsitzen. Möglicherweise würde bei einer Felsküste auch die Hülle des Bootes beschädigt. Nein, das Boot wird mit einer Minimalbesatzung von drei Technikern irgendwo weiter vor der Küste unter Wasser bewegt, um feindlicher Luftaufklärung zu entgehen. Nach einem Funkspruch auf der richtigen Frequenz und mit den richtigen Schlüsselworten lässt diese Mannschaft das Boot auftauchen und steuert es in einen Hafen.“

Aleksandra sprach weiter: „Der Kommandant der Garnison ist Kapitän Pedro Umber y Cochera. Er steht klar auf Seiten der faschistischen Regierung. Sein Bruder ist übrigens“, und hier warf Aleksandra einen scharfen Blick auf Johann, „Priester in Cartagena. Pedro Umber ist bekannt für seine kluge Taktik: Im Gegensatz zu vielen anderen Offizieren wendet er keine direkte Gewalt gegen Zivilbevölkerung an. Er gewinnt sie eher mit der Methode ‚Brot und Spiele‘, oder ‚Rum und Spiele‘. So hat er, als die Revolution Cartagena erfasste, nicht die Geschütze abgefeuert, sondern seine Soldaten Marktstände aufbauen lassen, an denen frei frisch gebackenes Brot und Rum ausgegeben wurden. Die Demonstranten ließen sich dadurch leicht beeindrucken. So blieb Cartagena das Schicksal vieler anderer Städte erspart, in denen es zu grausamen Massakern an den Arbeitern gekommen ist.“ 

Johann hatte den Wunsch, sich zu verteidigen: „Wenn diese Demonstranten mit solchen Friedensinstrumenten ausgestattet waren, wie ihr sie nach Sansibar geliefert habt, ist es verständlich, dass die legitime Regierung sich durch das staatliche Schutzorgan des Militärs verteidigt. Damit schützt die Regierung ja auch die öffentliche Ordnung, die sonst in Plünderungen, Vergewaltigungen und Mord unterginge.“ 

Aleksandra bemühte sich, nicht zornig zu werden: „Es ist klar, dass du in diesem Fall Partei für deinen Verein ergreifen musst. Aber wenn du dir die Besitzverhältnisse in diesem Land anschaust, auch den Großgrundbesitz deiner Kirche, dann wirst du doch wohl nicht leugnen können, dass es ungerecht ist, wenn wenige fast alles besitzen, und viele unter dieser Form des Eigentums leiden. Und wenn mich nicht alles täuscht, sitzen in dieser Regierung auch drei Priester. Du bis also befangen.“

Johann war gereizt: „Dass ihr mit Panzern in Ungarn den Volksaufstand des Vorjahres niedergeschlagen habt, war dann wohl ganz etwas anderes. Denn dort würden sonst möglicherweise keine Kommunisten mehr in der Regierung sitzen, wenn das Volk frei bestimmen könnte!“

Leonid übersetzte für Aleksandra, wandte sich dann aber ohne ihre Antwort abzuwarten direkt an Johann: „Ich weiß, dass es hier einige Anschauungsunterschiede gibt, aber dieses Problem werden wir nicht lösen können. Für uns ist es zuerst wichtig, dass wir Wladimir befreien und aus diesem Land wegbringen. Wenn wir dafür das Boot benützen können, um so besser.“

Thomas überlegte kurz: „Aber wie weit können wir mit einem solchen U-Boot fahren? Und wer soll es bedienen, wenn die Mannschaft mit ihrem Kapitän lieber hierbleiben möchte?“ 

Leonid antwortete, nachdem er die Frage für Aleksandra übersetzt hatte: „Dieses Boot fährt mit einer Besatzung von 27 Mann, es müsste auch mit weniger gehen, wenn wir nicht unmittelbar verfolgt werden und auch die taktischen Stationen besetzt werden müssen. Und bezüglich der Reichweite brauchst du dir keine Sorgen zu machen, die ist so gut wie unbegrenzt.“

Johann dachte an die vorherige Diskussion und seine Übelkeit auf diesem Schiff; wie sollte das erst in einer Blechbüchse unter der Meeresoberfläche sein. Warum mussten Menschen immer in Räume vordringen, für die sie nicht gemacht waren?

Thomas überlegte, was der Ausdruck ‚unbegrenzt‘ bedeuten könnte. Sollte es sich bei dem Boot um ein so genanntes ‚Atom-U-Boot‘ handeln, bei dem die Schraube nicht von einem Dieselmotor, sondern einem Kernreaktor angetrieben wurde? Er hatte schon von diesen Plänen gehört, aber an die Öffentlichkeit drang nicht viel darüber: U-Boote, die niemals auftauchen müssten, außer um Nahrung für die Crew aufzunehmen, die beliebig lange unter Wasser umherschleichen und darauf lauern konnten, dem Gegner mit einem unvorhersagbaren Überraschungsangriff schwersten Schaden zuzufügen. Könnte es möglich sein, dass er hier die Gelegenheit bekommen sollte, ein solches Boot selbst zu sehen und zu betreten?

Aleksandra riss ihn durch ihre Worte zurück in die Gegenwart: „Sobald wir in Cartagena angekommen sind, müssen wir irgendwie Kontakt zu unseren Verbündeten aufnehmen. Ich weiß noch nicht wie, aber mit Hilfe der kolumbianischen Kommunisten wird es uns gelingen, in das Gefängnis einzudringen und meinen Bruder und die treuen Genossen zu befreien.“

Johann überlegte, ob er das, was ihm durch den Kopf ging, aussprechen sollte. Ihm lag nichts an der Befreiung von Kommunisten. Im Gegenteil, gemäß seiner Information versuchten die Kommunisten die katholische Regierung Kolumbiens, die zugegebenermaßen eine Art Diktatur war, zu stürzen. Aber Alexandra einen Dienst zu erweisen angesichts ihrer Hilfe für ihn, schien ihm eine ausreichende Begründung: „Wenn der Bruder des Kasernkommandanten Priester ist, dann werde ich mit ihm Kontakt aufnehmen. Es ist in Cartagena, so wie ihr es beschrieben habt, zurzeit sicher leichter als Priester denn als Kommunist in die Kaserne zu kommen. Ich brauche Leonid als Dolmetscher, oder kann Wladimir Englisch.“ 

Aleksandras Kopfschütteln beantwortete seine Frage. „Aber mit welcher Begründung sollte ich in das Gefängnis kommen?“

Thomas antwortete: „Als Österreichischer Militärseelsorger! Die diplomatischen Kontakte zwischen Kolumbien und Österreich sind hervorragend; und von Priester zu Priester wirst du leicht auf deine Aufgaben zuhause hinweisen können. Dann musst du nur noch auf den Zeitungsartikel verweisen und nachfragen, ob die Gefangenen betreut werden. Mit Verweis auf deine Tätigkeit im Osten Österreichs könntest du dir möglicherweise Zutritt verschaffen. Denn auch dort leben ja Ukrainer und zum Teil Russen, die zu Österreich gehören. Frage dann, ob du einmal mit den Gefangenen reden könntest. Leonid, den du als deinen Sekretär ausgibst, wird dich begleiten und übersetzen.“

„Unsere Mutter war katholische Polin, bevor sie Kommunistin wurde. Wenn Wladimir Leonid in Begleitung eines Priesters sieht, wird er sofort erkennen, dass es um seine Befreiung geht, und jedes Spiel mitspielen.“

Johann nickte. Zugleich überlegte er, ob es richtig sein könnte, seine priesterliche Funktion als Tarnung zu verwenden. Es war leichter, einen Thüringischen Offizier zu spielen als seine eigene Rolle. Er hatte schon James in Sansibar belogen, und James war ein Freund. Da wäre es einfacher diesen unbekannten, Pedro Umber y Cochera, zu belügen. „Aber nicht als Sekretär. Es wäre völlig unglaubwürdig, wenn ich als Militärseelsorger mit einem Sekretär in Kolumbien herumführe. Leonid soll ein Seminarist sein, ein Student wie ich in Rom. Aus Uschhorod, dann haben wir eine Erklärung, warum er Russisch und Deutsch spricht.“

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